Die Beatles-Songs auf “Rubber Soul”

Julian Mark
13 min readFeb 16

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Dieser Text erschien um 2018 auf einem mittlerweile nicht länger gepflegten WordPress-Blog.

Drive My Car

Glücklicherweise waren die Beatles immer bestrebt neue Wege einzuschlagen. Sie erkannten den stagnierenden Zustand der Musikindustrie und ließen es sich nicht nehmen, jedes erdenkliche Genre in ihren Kompositionen zu ergründen. Während die meisten Songs auf Rubber Soul einen spürbaren Folk-Einfluss haben, zeigten sie in Drive My Car ihre Vorliebe für den amerikanischen Motown-Sound. Der Song beschreibt den Flirt zwischen einem Mann und einer Frau und enthält zahlreiche Anspielungen, wobei Paul den „drive my car“-Euphemismus laut eigener Angabe der traditionellen Blues-Szene entnommen hatte. Man kann nicht leugnen, wie viel Energie in diesem Song steckt. Sobald das Schlagzeug-Fill nach der eigenartig getakteten Einleitung ertönt, hat die Band uns am Haken. Paul und George, die identische Licks auf ihren jeweiligen Instrumenten spielen, sorgen für einen fesselnden Groove. Ringo hat besonders viel zu tun und hält den Takt am Schlagzeug, auf dem Tamburin und an der Cowbell. Im Soloteil hören wir Paul mit makellos vorgetragenen Slides an einer Gitarre, die sich durch den charakteristischen Twang-Sound der Sixties auszeichnet. Während des Refrains kommt Paul am Klavier zum Einsatz und übernimmt die Rolle der Rhythmusgitarre, die in diesem Song ausnahmsweise ausfällt. Über all dem liegt ein punktgenaur Doppelgesang von John und Paul, mit dem sie für eine lebendige Atmosphäre sorgen und dem Song ihre unverwechselbare Handschrift verleihen. Überraschenderweise wurde der Song nie als Single veröffentlicht. Trotzdem bleibt Drive My Car bis heute ein interessantes Beispiel für den Einfluss amerikanischer Musik, an dem die Absicht der Beatles nach kreativen Wachstum deutlich wird.

Norwegian Wood (This Bird Has Flown)

In der erzählerischen Natur dieses unkonventionellen Songs erkennt man die zunehmende Vorliebe zur Folk-Musik, die zum damaligen Zeitpunkt einen maßgeblichen Einfluss auf die Musik der Beatles gehabt hat. John experimentiert mit Sprache, Zeilen lassen Spielraum für Interpretation und wer der Geschichte noch keine größere Aufmerksamkeit geschenkt hat, wird deren Drehungen und Wendungen mit Sicherheit nicht voraussagen können. Die Rauheit in seiner Stimme hat in Verbindung mit der zurückhaltenden Gesangsdarbietung eine überraschend angenehme Tonalität. Mit geschmackvollen Begleitgesängen sorgt Paul in der Bridge für das gewisse Etwas. Der Song zeichnet sich auch durch seine spärlich gehaltene Instrumentierung aus. John begleitet sich auf einer kraftvoll gespielten Akustikgitarre, was die intime Atmosphäre des Songs gut zur Geltung bringt. Weder die E-Gitarre noch das Schlagzeug kommen zum Einsatz. Lediglich das Tamburin verleiht der Bridge eine willkommene Textur, während die Musik ansonsten von Ringo mit subtilem Klatschen auf die Beine unterlegt wird. Ein unkonventionelles Element ist die zum damaligen Zeitpunkt unübliche Verwendung der indischen Sitar. Nachdem George sie eines Tages zu den Aufnahmen mitgebracht hatte, verging nicht viel Zeit, bis sie auch in einem ihrer Songs Verwendung fand. Ihr sanftes Dröhnen entfaltet dabei insbesondere in Verbindung mit der Akustikgitarre eine beruhigende Wirkung. Im vielseitigen Repertoire der Beatles ist dieser Song sowohl textlich als auch instrumental ein Einzelstück und ein weiteres Beispiel dafür, wie sie den Weg für zukünftige Trends ebneten.

You Won’t See Me

Im bis zu diesem Zeitpunkt längsten Song der Beatles verarbeitet Paul aller Voraussicht nach seine turbulente Beziehung mit Schauspielerin Jane Asher und deckt dabei von bösartigen Vorwürfen bis zum Selbstmitleid alle Gefühle ab. Der Song zeichnet sich vor allem durch sein interessantes Gesangsarrangement aus. Das Zusammenspiel zwischen Paul und den Begleitgesängen, die den von ihm gesungenen Titel nach einem kurzen Moment wiederholen, ist besonders eingängig und gibt dem Song eine unverwechselbare Handschrift. Altbackene „ooh, la, la, la“-Falsettgesänge weisen den Weg durch die Strophen, während Paul in der Bridge mit sich selbst harmonisiert und dem Gesungenen zusätzliches Gewicht verleiht. Wenn der Titel im Refrain gesungen wird, akzentuiert Ringo die Worte mit gleichzeitigen perkussiven Anschlägen und erzeugt damit einen unwiderstehlichen Groove. Mit seinen verschachtelten Schlagzeug-Fills erzeugt er schwungvolle Übergänge zwischen den verschiedenen Songabschnitten. Dass die Musik nicht von der Rhythmusgitarre, sondern von Paul am Klavier vorangetrieben wird, zeigt, wie wohl er sich in mitlerweile in dieser Rolle fühlt. Seine melodischen Basslinien liegen zwar etwas tief im Mix, sind allerdings beeindruckend abwechslungsreich und halten den Song gekonnt in Bewegung. Mit der Zeit entfernten sich die Beatles mehr und mehr von ihren Rock’n’Roll-Wurzeln und entwickelten insbesondere mit Songs wie diesem eine treffsichere Pop-Sensivität.

Nowhere Man

Während sich die Texte der Beatles bis 1965 meist in irgendeiner Form mit dem Thema Liebe auseinandersetzten, verfolgte John in diesem Song einen anderen Ansatz. Nachdem er bei der Arbeit am neuen Album damit gekämpft hatte, Ideen für neue Texte zu finden, entschied er sich, stattdessen das Ausbleiben von Ideen in Worte zu fassen und die Ziellosigkeit zu beschreiben, von der er sich in seinem Leben überwältigt fühlte. Obwohl der gesamte Gesang in dreistimmiger Harmonie vorgetragen wird, steht John mit seiner doppelspurig eingesetzten Stimme im Mittelpunkt. Aus den Begleitgesängen von Paul und George werden im Laufe des Songs Hintergrundharmonien, die mit Phrasen wie „oh, la, la, la“ eine willkommene Abwechslung ins Arrangement bringen. Die Gesangsmelodie ist einfach gestrickt und bleibt auf Anhieb im Gedächtnis, während die raue Stimme von John den Schmerz auf überzeugende Weise zum Ausdruck bringt. Die Lautstärke der Instrumente ist gut aufeinander abgestimmt und keines fällt zu sehr in den Hintergrund. Ringo hält sich mit einem einfachen Schlagzeug-Muster im Hintergrund verpasst der Bridge mit seinen rasanten Trommelwirbeln einen interessanten Einstieg. Das von George gespielte Thema auf der leicht verzerrten Gitarre dient als geschickter Übergang am Ende der Strophen und spiegelt in seiner abwärts gerichteten Melodie die Schwermut im Text wider. Im Instrumental spielen John und George auf ihren jeweiligen Gitarren ein einstimmiges Solo, das sich durch einen auffallend durchdringenden Klang auszeichnet. Eine tiefgründige Folk-Ballade mit persönlicher Note, die trotz, oder gerade wegen ihrer Einfachheit eine große Wirkung entfaltet.

Think for Yourself

Mit seiner insgesamt fünften Veröffentlichung schrieb George eine Protestnummer, in der die Regierung als undurchsichtig und Wahlversprechen als Lügen bezeichnet werden. Daher appeliert er an uns, eigenständige Gedanken zu fassen anstatt sich die Entscheidungen vom Staat abnehmen zu lassen. George überzeugt mit einer Gesangsdarbietung, die alles bisher Dagewesene aus seinem Repertoire übertrifft. Er klingt, als ob er meint, was er singt und verstrahlt insbesondere im Vergleich mit früheren Songs ein spürbares Selbstbewusstsein. Die Doppelspurigkeit führt zu einem direkten, kraftvollen Klang seiner Stimme und eignet sich hervorragend für den bissigen Inhalt. Da die Band im Gegensatz zu vorigen Alben nicht zusätzlich mit einer Filmproduktion beschäftigt waren, gab es bei den Aufnahmen von Rubber Soul mehr Zeit, ihrer Kreativität im Studio freien Lauf zu lassen. Neben untypischen Akkordwechseln wird die Experimentierfreudigkeit besonders im von Paul gespielten Bass deutlich, der mit seinem bedrohlich klingenden Fuzz-Effekt von Beginn an den Ton für diese Protestnummer vorgibt. Ringo hält sich mit einem rudimentären Schlagzeugrhythmus weitgehend im Hintergrund, kommt dafür aber am Tamburin und den Maracas zum Einsatz, mit denen er dem Song eine willkommene Textur verleiht. Mit Songs wie diesem, in denen George seine Grenzen sowohl melodisch als auch textlich weiter ausreizt, ist die Entwicklung vom scheuen Gitarristen zum Ass im Ärmel der Band in vollem Gange.

The Word

Während John in letzter Zeit meist in der Rolle des verletzlichen Singer-Songwriters aufgetreten ist, nutzte er The Word, um seinem Wunsch nach Liebe und Frieden Ausdruck zu verleihen. Dass der Song trotz der klischeebeladenen Botschaft nicht ins Rührselige abdriftet, ist insbesondere der energiegeladenen Atmosphäre zu verdanken. In der Bridge hören wir John mit einer heißblütigen Gesangsdarbietung. Abgesehen davon wird der Gesang in dreistimmiger Harmonie vorgetragen. Dadurch, dass John, Paul und George im Verlaufe des Songs ins Falsett springen, wird die aufgeregte Stimmung durchweg auf einem hohen Level gehalten. Instrumental läuft der Song von Beginn an auf Hochtouren. Der Rhythmus, mit dem George das markante Gitarrenriff während der Strophen spielt, erzeugt einen unvergleichlichen Groove, während sich Paul mit seinem tänzerischen Klavierspiel als treibende Kraft des Songs erweist. Sein melodisches Bassspiel, mit dem er den Song gekonnt in Bewegung hält, ist ebenfalls hervorzuheben. Ringo sorgt mit dem Schütteln der Maracas für eine temperamentvolle Atmosphäre und integriert seine bebenden Fills gekonnt zwischen die verschiedenen Songabschnitte. Im Instrumental sorgt George Martin mit dem dröhnenden Harmonium für einen ordentlichen Hauch Psychedelia. Mit dieser Hippie-Hymne waren die Beatles dem Summer of Love um ganze zwei Jahre voraus und gaben in weiser Voraussicht den Ton für das vor, was folgen sollte.

Michelle

Paul versteht es, ein stimmliches Bild zu erzeugen, das einem das Gefühl gibt, Zeuge dieser verzweifelten Liebeserklärung an eine Französin zu sein. Die Einbeziehung der französischen Sprache und ihr melodiöser Klang verhilft der romantischen Note im Text und machte Michelle außerdem zu ihrem ersten Nummer-eins-Hit in Frankreich. Kombiniert mit einer meisterhaft geschriebenen und makellos vorgetragenen Gesangsmelodie, strahlt diese charmante Popballade pure Eleganz aus. Die Bridge, in der Paul seiner Verzweiflung durch die mehrfache Wiederholung der Phrase „I love you“ Ausdruck verleiht, sticht als emotionaler Höhepunkt hervor. Ein Großteil des Charmes liegt in den mehrstimmigen Bergleitharmonien („ooh“), mit denen John und George während des gesamten Songs für eine träumerische Atmosphäre sorgen. Herzstück der Instrumentierung ist eine Mischung aus einer Nylon- einer Western und einer 12-saitigen Gitarre, die gleichzeitig bespielt werden und in angenehmen Weise durch den Song führen. Im Instrumental stiehlt George mit seinem jazzig-melodischen Solo die Show. Seine E-Gitarre ist das einzig nicht-akustische Element, vermischt sich allerdings wegen ihres gedämpften Klangs wunderbar mit der zurückhaltenden Instrumentierung. Ringo weiß, wann er sich zurückhalten soll und hält den simplen Takt mit einem angemessenen Feingefühl. Wäre Paul nicht so vom Rock’n’Roll angetan gewesen, hätte er ein hervorragender Broadway-Komponist werden können. Stattdessen verewigt er sich mit Songs wie diesem als einer der wichtigsten Balladenschreiber in der Popgeschichte.

What Goes On

Ursprünglich hatte John diesen Song für das zweite Album geschrieben, doch da er ihren Ansprüchen nicht gerecht wurde, wurde er auf die hohe Kante gelegt. Um Ringo seinen obligatorischen Platz auf dem Album zu gewährleisten, schrieben sie den alten Song gemeinsam ein wenig um und Ringo erhielt seine erste Anerkennung als Autor. Der Erzähler gibt sich der Illusion hin, dass in seiner Beziehung alles in Ordnung sei, nur um seine Welt zusammenbrechen zu sehen, als er seine Freundin mit einem anderen erwischt. Ringo schafft es weitgehend die Tonhöhe zu halten, wobei John und Paul wo es nötig ist mit Begleitgesängen unterstützen. Und trotz eines zugegebenermaßen begrenzten Stimmumfangs, ist es gerade die Trägheit in seiner Stimme, in der sich die Trostlosigkeit auf überzeugende Weise widerspiegelt. In der Instrumentierung hat George an der Gitarre von Beginn an eine starke Präsenz. Seine improvisiert klingenden Licks ziehen sich durch den gesamten Song und setzen den Ton für diese Country-angehauchte Komposition. Um sich nicht zu sehr vom Singen abzulenken, konzentriert Ringo sich am Schlagzeug aufs Wesentliche, während Paul die Musik mit seinem Walking Bass gekonnt in Bewegung hält. Auch wenn What Goes On im Schatten der Konkurrenz etwas untergeht, stellen die Beatles mit Songs wie diesem einmal mehr ihre erstaunliche Vielseitigkeit unter Beweis.

Girl

In dieser gefühlvollen Ballade, die John als eine seiner besten bezeichnete, werden die Höhen und Tiefen des Verliebtseins thematisiert. In der ersten Strophe schreibt John über seine Traumfrau und schwärmt von der gemeinsamen Zeit, die sie miteinander verbracht haben. Im Verlaufe des Songs ändert sich jedoch seine Perspektive und er erzählt davon, wie abhängig er von ihr geworden ist und dass er sie nicht verlassen kann, obwohl er das Gefühl hat, dass er es sollte. John singt die atemberaubend schöne Gesangsmelodie mit einer gefühlvollen Leidenschaft und wird dem bittersüßen Inhalt dabei mehr als gerecht. Seine Gesangsspur wird einspurig eingesetzt und verleiht dem Song in Verbindung mit dem zurückhaltenden Arrangement eine besonders persönliche Note. Seine kräftigen Atemzüge im Refrain, mit dem uns John förmlich in die sehnsüchtige Atmosphäre einsaugt, unterstreicht die dramatische Note im Text und gibt dem Song ein unverwechselbares Alleinstellungsmerkmal. Wenn der Titel des Songs gesungen wird, verleihen ihm Paul und George mit makellos ausgeführten Begleitgesängen Schwung und eine zusätzliche Fülle. Mit seinem schaukelnden Rhythmus am Bass trägt Paul zum ethnischen Flair des Songs bei, während George gegen Ende mit einer 12-saitigen Akustikgitarre in Erscheinung tritt, deren mediteraner Klang sich hervorragend ins akustische Arrangement integriert. Mit Girl stellt John unter Beweis, dass er in puncto Balladen durchaus mit Paul mithalten.

I’m Looking Through You

Paul ist nicht dafür bekannt, viel von seinem Privatleben preiszugeben, doch in dieser Folk-Rock-Nummer gewährt er uns einen seltenen Einblick. Aller Voraussicht nach wird das turbulente Ende seiner Beziehung zu Schauspielerin Jane Asher besungen. Er scheint seiner Geliebten die Untreue vorzuwerfen und behauptet, ihre Lügen zu durchschauen. In der dritten Strophe singt er etwa, dass sie früher „über“ ihm stand, „aber nicht heute“, womit Paul ausdrückt, dass er all seinen Respekt vor ihr verloren hat. Mit dem Ausruf der Worte „You’re not the same!“ erreichen die Strophen einen emotionalen Höhepunkt, woraufhin die gesamte Band drauf los spielt, um der Frustration in Pauls Worten Gewicht zu verleihen. Sein Stimme wird doppelspurig eingesetzt, was zu einem klaren und direkten Klang führt. Seine kraftvolle Gesangsleistung klingt wie gewohnt phänomenal eignet sich hevorragend für die bissige Note im Text. Während der Strophen glänzt insbesondere John mit seiner beschwingten Rhythmusgitarrenarbeit, mit der er eine lebendige Atmosphäre in die Musik bringt. Wer genau hinhört, entdeckt in diesem Song einige Aussetzer der Band. Ringo verfehlt des Öfteren sein Schlagzeug und gerät mit dem Schütteln der Streichholzschachtel aus dem Takt. Während der Strophen hören wir George auf der Gitarre herumdoktern, doch ihm scheinen die Ideen auszugehen und er setzt ab einem gewissen Zeitpunkt einfach aus. Während heutzutage häufig Click-Tracks und ähnliche Hilfsmittel eingesetzt werden, verstrahlen Eigenarten wie diese allerdings eine gewisse Nahbarkeit und Authentizität. I’m Looking Through You ist ein bis heute absolut zeitloses Paradebeispiel für die treffsichere Pop-Sensivität, die die Beatles insbesondere während der Aufnahmen zu Rubber Soul auszeichnete.

In My Life

Bereits in Songs wie If I Fell ließ John, der gemeinhin als Rocker der Band gilt, eine sensiblere Seite durchscheinen. Doch in diesem Song gewährt er uns einen Einblick in seine persönliche Vergangenheit und reflektiert darüber, wie er zu der Person geworden ist, die er heute ist. John schreibt über die Orte und Menschen seiner Kindheit und fragt sich, was aus ihnen geworden ist, bevor die Reise in die Gegenwart wechselt und sich zeigt, dass wir auch zu schätzen wissen sollten, wohin uns unsere Vergangenheit geführt hat. Seine gefühlvolle Gesangsdarbietung transportiert den Inhalt auf überzeugende Weise. Begleitgesänge harmonisieren zu Beginn jeder Zeile mit John, bevor er den Gedanken allein und mit schwelgerischem Ton in der Stimme zu Ende bringt. Auch wenn George mit dem Thema auf der elektrischen Gitarre nur viermal zu hören ist, spielt er diesen wesentlichen Bestandteil des Songs mit viel Feingefühl. Paul fügt am Bass stimmige Nuancen hinzu, ohne dabei zu sehr in den Vordergrund zu treten, während Ringo der Musik mit seinem verschachtelten Schlagzeugbeat ein einzigartiges Fundament verleiht. Im Instrumental erkennt man die zunehmende Experimentierfreudigkeit der Band. Man könnte meinen, beim Solo würde es sich um ein Cembalo handeln. Aufgenommen wurde es allerdings von George Martin auf dem Klavier. Durch das Anheben der Abspielgeschwindigkeit erhielt es einen barocken Klang, weswegen sich das Solo so hervorragend in die nostalgische Stimmung integriert. Paul behauptet, er hatte einen Anteil an der Entstehung des Textes. John sagt, Paul habe ihn nur beim Schreiben der Musik unterstützt. In jedem Fall ist In My Life ein Zeugnis für die beispiellose Genialität des Songschreiber-Teams und ein zeitloses Stück Musikgeschichte, mit dessen Inhalt sich jede Altergruppe identifizieren kann.

Wait

Die Struktur dieses Songs ist interessant, da Strophe, Refrain und Bridge nicht unterschiedlicher voneinander sein könnten und trotzdem so gut miteinander funktionieren. Die Band spielt mit Spannung, indem sie der Instrumentierung nach und nach neue Elemente hinzufügt. Dieser Kontrast kann irritierend sein, sorgt allerdings für eine gewisse Vorfreude auf den Höhepunkt. Das macht es besonders befriedigend, wenn im Refrain die gesamte Band einsetzt und all der angesammelte Druck abgelassen wird. John und Paul teilen sich den Gesang und überzeugen beide mit einer beachtlichen Bandbreite, die sie in der kurvigen Gesangsmelodie erreichen. Im Vordergrund der Instrumentierung steht insbesondere George an der Gitarre, der ihr mit dem Lautstärkepedal eine einzigartige Textur verleiht. Auch Ringo hat eine starke Präsenz und bringt mit seinen donnernden Fills und komplizierten Musterwechseln Bewegung in die Musik. Das durchgängige Zischen des Schlagzeugbeckens erinnert an klassische Rock’n’Roll-Nummern auf früheren Alben der Band. Ursprünglich wurde der Song für das Help!-Album aufgenommen und danach klingt er auch. Wait ist also ein guter Anhaltspunkt für den Unterschied, den nur wenige Monate im Sound der Band ausmachen konnten. Auch der vergleichsweise einfache und unschuldige Inhalt des Songs entspricht eher dem früheren Schreibstil des Duos Lennon/McCartney. Es wird die Geschichte eines Paares erzählt, das wegen der nicht weiter erklärten Abwesenheit des Erzählers aktuell voneinander getrennt ist. Er tröstet sie mit dem Versprechen, bald nach Hause zurückzukommen und hofft, dass ihr Herz stark genug ist, um bis dahin durchzuhalten. Auch wenn Wait in Gesellschaft der phänomenalen Songs auf Rubber Soul nicht wirklich hervorsticht, ist der Song ein interessantes Beispiel für die Freude am Ausprobieren, durch die sich die Band bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auszeichnete.

If I Needed Someone

Während die Beatlemania in vollem Gange ist und sich unzählige Fans geradezu darum reißen, eine Affäre mit einem der Beatles einzugehen, richtet sich George in diesem Song an eine seiner Verehrerinnen. Offensichtlich hat sie ihn zu einem ungünstigen Zeitpunkt erwischt, denn er schreibt, dass er im Moment niemanden brauche. George war zu diesem Zeitpunkt seit bereits einem Jahr in einer Beziehung mit Pattie Boyd. Er schließt allerdings nicht aus, in Zukunft doch mit ihr zusammenzukommen und versichert seiner Verehrerin, dass er im Falle der Suche nach einer neuen Geliebten an sie denken würde. Der fahle Gesang von George eignet sich hervorragend für den Inhalt des Songs und wird souverän vorgetragen, während John und Paul ihm beim Singen des Songtitels mit Begleitgesängen zusätzlichen Schwung verleihen. Ringo gibt gewissenhaft den Takt vor und lockert die Stimmung am Tamburin ein wenig auf. Paul akzentuiert das Arrangement mit tänzerischen Melodien am Bass, ohne dabei zu sehr in den Vordergrund zu treten. Aushängeschild der Instrumentierung ist aber sicherlich die 12-saitige Gitarre, mit der George die Gesangsmelodie nachahmt und während der gesamten Laufzeit für einen unwiderstehlichen Groove sorgt. Gerade die frühen Songs aus der Feder von George vermitteln häufig den Eindruck, als ob die Band bei den Aufnahmen nicht voll und ganz dabei gewesen ist. Diese Komposition hingegen wirkt gänzlich durchdacht und von Anfang bis Ende rund. Die Zuversicht der Band, den Song für das gesamte kommende Jahr bei ihren Live-Auftritten zu spielen, war sicherlich ausschlaggebend für sein kreatives Schaffen innerhalb der nächsten vier Jahre.

Run for Your Life

Für eine Band, deren Katalog zum damaligen Zeitpunkt beinahe ausnahmslos aus Liebesliedern bestand, waren düstere Themen die Ausnahme. Die Musik in Run for Your Life hat eine heitere Atmosphäre, doch inhaltlich geht es in dieser Komposition aus der Feder von John ordentlich zur Sache. John singt aus der Perspektive eines Mannes, der seiner Frau mit dem Tod droht, solle er sie mit einem anderen Mann erwischen. Seine Entschlossenheit rechtfertigt er mit den Worten, dass er nicht sein gesamtes Leben damit verbringen will, sie ans Einhalten seiner Regeln zu erziehen. Schwarzer Humor ist kein Thema, das den Kompositionen der Beatles fremd war. Doch während solche Inhalte in Songs wie Norwegian Wood oder Maxwell’s Silver Hammer durch Wortspiele und groteske Überzeichnungen zum Ausdruck gebracht werden, hinterlässt die unverblümte Botschaft in Run for Your Life insbesondere in Anbetracht der gewalttätigen Vergangenheit von John ein eher mulmiges Gefühl. Seine selbstbewusste Gesangsdarbietung ist, ungeachtet dessen, treffend vorgetragen und zweifellos das Aushängeschild des Songs. In der Instrumentierung sticht insbesondere George hervor, dessen Slide-Licks auf der Gitarre gekonnt als Übergänge zwischen Refrain und der folgenden Strophe fungieren. Sein fetziges Solo ist makellos gespielt und erinnert an klassische Rock’n’Roll-Nummern auf früheren Alben der Band. Ringo macht sich mit einem unermüdlichen Tamburin bemerkbar, das auffallend laut im Mix liegt, während sich Paul mit simpel gestalteten Basslinien eher bedeckt hält. Mit diesem Song liefert John ein interessantes Beispiel für sein Talent, stets mit etwas Unerwartetem zu überraschen. Musikalisch scheint es der Komposition allerdings an den Innovationen zu mangeln, durch die sich ein Großteil der bahnbrechenden Songs auf Rubber Soul auszeichnet. Gerade als letzter Song des Albums wirkt er dort eher deplatziert.

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