Die Beatles-Songs auf “Help”

Julian Mark
13 min readFeb 16

--

Dieser Text erschien um 2018 auf einem mittlerweile nicht länger gepflegten WordPress-Blog.

Help!

Die Heranreifung der Beatles als Songschreiber wurde während der vergangenen Jahre besonders deutlich, als sie allmählich begannen, sich an anspruchsvollere Themen heranzuwagen. Bob Dylan diente als Katalysator, um persönliche Gefühle zu verarbeiten. Als den Beatles der Name des Titelsongs für ihren nächsten Spielfilm vorgegeben wurde, entschied John sich zum Schreiben einer Single, die sich mit der Verarbeitung persönlicher Gefühle beschätfigten sollte. Die aufrichtige Selbstreflektion im Text lässt darauf schließen, wie erschöpft John zum damaligen Zeitpunkt gewesen sein muss. Er beschreibt sein Leben „als aus der Kontrolle geraten“ und bettelt uns geradezu um Hilfe, um wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Seine leidenschaftliche Gesangsdarbietung trägt dazu bei, dass der Inhalt besonders glaubwürdig rüberkommt und die Rauheit in seiner Stimme lässt uns die Verletzlichkeit geradezu spüren. Dass die Gesangsmelodie etwas einfach gestrickt ist und sich während der gesamten Laufzeit kaum bewegt kann kritisiert werden, spiegelt die Resignation aber auf überzeugende Weise wider. George hält sich während der Strophen instrumental zurück, tritt allerdings gemeinsam mit Paul mit Begleitgesängen in Erscheinung, indem er entscheidene Passagen wiederholt um ihnen zusätzliches Gewicht zu verleihen. Im Refrain setzt er Akzente mit der Gitarre, wie etwa wenn er nach der Zeile „I’m feeling down“ die Tonleiter hinabgeht. Die Komplexität in seinem Bassspiel passt Paul an den Bedarf des jeweiligen Songabschnitts an, während Ringo die Lautstärke am Schlagzeug während der Höhepunkte ansteigen lässt. Mit Help! ging John sowohl inhaltlich als auch strukturell an die Grenzen des Machbaren. Der Song eröffnet ihr fünftes Album mit einem Knall und ist bis heute ein absolut zeitloser Klassiker.

The Night Before

Der überzeugendste Aspekt dieses formelhaften Popsongs ist die beeindruckend kraftvolle Stimme, mit der Paul dem klischeebeladenen Inhalt Ausdruck verleiht. Sein Gesang während der Strophen geht den Begleitgesängen von John und George voraus, die seine Sätze zu Ende führen und dem Song eine besonders lebendige Atmosphäre verleihen. Sowohl Paul als auch die Begleitgesänge fügen dem Gesungenen zusätzliche Silben hinzu, sodass ein gewisser Überschneidungseffekt entsteht, in dem ihre abwechselnden Parts nahtlos ineinander übergehen. Während Paul sich in der Vergangenheit bereits des Öfteren nach Lust und Laune an die Tasten gesetzt hatte, wollte John seine Fähigkeiten am Keyboard nun ebenfalls unter Beweis stellen. Tatsächlich erweist sich sein pulsierendes Spiel als treibende Kraft des Songs und verleiht der Musik ein willkommenes Alleinstellungsmerkmal. Mit seinen schwungvollen Fills erzeugt Ringo einen mitreißenden Drive und das durchgängige Zischen des Beckens lässt den Song dabei nicht zur Ruhe kommen. Ein weiterer Blickfang ist das gut einstudierte Gitarrensolo, in dem sowohl Paul als auch George dieselben Noten im Abstand einer Oktave spielen. Auch Pauls melodisches Bassspiel sticht hervor und hält die Musik gekonnt in Bewegung. The Night Before mag nicht zu den größten Hits der Band gehören, dafür ist er ein hervorragend ausgeführter Popsong, der die Stärken der Beatles perfekt einfängt.

You’ve Got to Hide Your Love Away

Wie in kaum einem anderen Song wird in dieser Folk-Ballade der zunehmende Einfluss von Bob Dylan auf John als Songschreiber deutlich. John fängt die Essenz seiner Texte ein, indem er die Auswirkungen einer zerbrochenen Beziehung beschreibt, während er den Inhalt zugleich vage genug lässt, um ein vollständiges Bild zu vermitteln. Die Dylan-ähnliche Rauheit in seiner Stimme vermittelt den Schmerz auf überzeugende Weise und man könnte sogar meinen, er singt mit einer betont nasalen Stimme. Um die intime Atmosphäre nicht zu schmälern, wird auf doppelspurigen Gesang und Begleitharmonien verzichtet. Der Song ist durchweg akustisch und zeichnet sich durch eine spärliche Instrumentierung aus. Der gedämpfte Klang der beiden von George gespielten Akustikgitarren verhelfen dem schwermütigen Charakter des Songs, wobei auffällt, dass sie etwas zu tief im Mix platziert sind. Mit dem scheppernden Tamburin setzt Ringo willkomenne Akzente und bringt höhere Frequenzen in die Musik. Im Laufe der Diskografie werden zunehmend orchestrale Instrumente eingesetzt. Den Song mit der Flöte zu beenden ist eine interessante Wahl und verleiht dem Ende einen hoffnungsvolle Note. Diese einzigartige Komposition bringt die verletzliche Seite von John gekonnt zum Ausdruck lässt ihn als Singer-Songwriter in Höchstform auflaufen.

I Need You

Wie in vielen seiner frühen Texte, schildert George in seiner insgesamt zweiten Eigenkomposition mit dem Ende einer Beziehung die schwermütigen Aspekte des Lebens. George mag zwar nicht der Beatle mit dem besten Gespür für Tonhöhen sein, doch I Need You ist ein Paradebeispiel für die Präzision, mit der er seine Stimme kontrollieren kann. Seine fahle Stimme eignet sich hervorragend für die melancholische Stimmung des Songs, in dem eine zerbrechende Beziehung beschrieben wird. Ein auffallendes und eventuell irritierendes Element ist das Feedback der Gitarre, die von George am Ende jeder Zeile angespielt wird und dabei sowohl im Takt als auch in der Tonhöhe vom Song abweicht. Der weinerlich anmutende Klang trägt allerdings seinen Teil dazu bei, der Melancholie im Text zusätzliches Gewicht zu verleihen. Zur Abwechslung hören wir John am Schlagzeug, der einen rudimentären Beat spielt, um die emotionale Gesangsdarbietung von George nicht zu beeinträchtigen. Auch Paul hält sich mit seinem Bassspiel eher im Hintergrund und unterstützt hier und da Begleitgesängen, während der Bridge von Ringo an der Cowbell etwas Schuss verliehen wird. Auch wenn das Talent von George in den frühen Jahren seiner Songschreiber-Karriere noch nicht ganz ausgereift war, stellt er mit dieser Folk-Ballade unter Beweis, dass er in Sachen Melodik durchaus mit seinen Bandkollegen mithalten kann.

Another Girl

Den Song nicht nur mit einem A-capella-Gesangseinsatz, sondern auch unmittelbar mit dem Refrain zu beginnen, sorgt gleich von Beginn an dafür, dass ein unvergleichlicher Schwung in die Musik gebracht wird. Von vergleichbaren Einleitungen haben die Beatles insbesondere auf den frühen Alben regelmäßig Gebrauch gemacht. Seine stimmliche Bandbreite lässt Paul uns spüren, wenn er scheinbar mühelos zwischen Kopf- und Bruststimme hin- und herwechselt. Auffallend ist, dass sein Gesang etwas tief im Mix vergraben liegt. Da seine Tonspur allerdings doppelspurig eingesetzt wird, was zu einem direkten und kraftvollen Klang führt, lässt sich darüber hinwegsehen. Mit gekonnt ausgeführten Begleitgesängen bringen John und George eine angenehmene Fülle ins Arrangement. Ihre instrumentalen Beiträge stechen hingegen nicht sonderlich hervor. Paul, der zu Beginn der Beatles widerwillig vom Gitarristen zum Bassisten degradiert wurde, gelang es über die Jahre immer häufiger, George seine Rolle als Leadgitarrist der Gruppe abzunehmen. Auf späteren Songs hatte er sich in dieser Rolle mehrfach bewährt. Seine überspielten Riffs, die diesen Song während seiner gesamten Laufzeit dominieren, wirken allerdings beinahe schon als zu viel des Guten. Der unverblümte Text ist auf nähere Betrachtung beinahe anstandslos. Paul richtet sich an seine Freundin, die eifersüchtig auf sein mögliches Interesse an einer anderen Frau zu sein scheint. Ihre Befürchtungen bestätigen sich, wenn er ihr mitteilt, dass er sie nun durch seine Affäre ersetzen wird. Nicht alle Songs der Beatles waren frei von jedem Makel. Doch auch wenn Another Girl in der hervorragenden Konkurrenz des Albums etwas untergeht, wäre eine peppige Rocknummer wie diese für jede andere Band ein Vorzeigesong gewesen.

You’re Going to Lose That Girl

Verglichen mit den klischeebeladenen Liebesliedern aus den frühen Jahren, wirkt die bissige Botschaft in dieser poppigen Nummer beinahe unbarmherzig und gemein. John zeigt, dass er vor keinem Thema zurückschreckt und verkündet selbstbewusst, seinem ungenannten Freund die Geliebte wegschnappen zu wollen. So wie sein Freund sie behandelt, ließe er John keine Wahl. Die unverblümte Text kommt in seiner charismatischen Gesangsdarbietung hervorragend zum Vorschein. John hat keine Angst, sich voll und ganz seinem Charakter hinzugeben und klingt in jeder Zeile, als ob er meint, was er singt. Seine Selbstsicherheit wird durch den Dialog bestätigt, der während des Refrains zwischen ihm und den Begleitgesängen zum Einsatz kommt („Yes, yes, you’re gonna lose that girl!“). Dieses Call-and-Response-Prinzip nutzten die Beatles in vielen ihrer frühen Aufnahmen und ist eine wirksame Methode, dem Song eine lebendige Atmosphäre zu verleihen. Das kurvenreiche Gitarrensolo von George ist schlicht, aber wirkungsvoll und hat einen hohen Wiedererkennungswert. Auch wenn er etwas tief im Mix liegt, hat Paul mit seinen melodischen Basslinien eine besonders starke Präsenz. Sein verwickeltes Spiel wäre für einen simplen Song wie diesen im Grunde nicht nötig gewesen, wertet den Song allerdings enorm auf. Die zunehmende Experimentierfreudigkeit der Band zeigt sich im Latin-angehauchten Rhythmus an den Bongo-Trommeln, mit dem Ringo der Musik einen feurigen Klang verleiht. Ausgefeilte Pop-Songs wie dieser zeigen, dass die Beatles ihre Grenzen sowohl inhaltlich auch musikalisch stets zu erweitern versuchten.

Ticket To Ride

Diese Single-Auskopplung wird bis heute gelegentlich als erster Heavy-Metal-Song in der Musikgeschichte bezeichnet. Gemessen an heutigen Standards ist Ticket To Ride eher zahm, allerdings lassen sich einige Elemente erkennen, die den Song zu einem nicht zu unterschätzenden Vorboten des Genres machen. Inhaltlich schildert John den Verlust seiner Geliebten, der ihn hoffnungslos und verloren zurücklässt. Die gefühlsbetonte Gesangsdarbietung vermittelt die resignierte Stimmung auf überzeugende Weise, während uns die trockene Rauheit in seiner Stimme die Schwermut geradezu spüren lässt. Die Hauptrolle in der Instrumentierung wird von George gespielt, dessen mitlerweile ikonisches Gitarrenriff mit seiner konstanten Wiederholung eine beinahe hypnotisierende Wirkung entfaltet. Ohne auch nur ein Becken zu berühren, wird der Rhythmus des Gitarrenriffs von Ringo in einem einzigartigen Schlagzeugmuster nachgeahmt, das der Musik gemeinsam mit seinen donnernden Fills ein besonders schweren Sound verleiht. Paul hält den Song mit seinen melodischen Basslinien gekonnt in Bewegung und seine gelegentlichen Licks an der Gitarre verpassen ihm den letzten Schliff. In der Bridge, die sich in vielerlei Hinsicht von den Strophen abhebt, wechselt die die Band völlig nahtlos das Tempo. Mit dem scheppernden Tamburin bringt Ringo Fahrt in die Musik, während Pauls Begleitgesänge der Stimme von John zusätzliches Gewicht verleihen. Der bis dahin längste Song der Beatles wurde zu einer weiteren britischen und amerikanischen Nummer-eins-Single und gehört bis heute zu den unbestreitbaren Höhepunkten ihres frühen Repertoires.

Act Naturally

Country und Western sind nicht unbedingt die ersten Genres, die man man den Beatles assoziieren würde. Dennoch wurde diese Art von Musik von der Gruppe und insbesondere Ringo immer sehr geschätzt. Bereits in den späten 1950er Jahren trat er einer englischen Country-Band namens The Ravind Texans bei und auch in vielen seinen später veröffentlichen Solo-Alben wird der Einfluss des amerikanischen Genres mehr als deutlich. In Anbetracht seiner Schauspielambitionen war es keine Überraschung, dass die Wahl für seinen Song auf Help! auf diese Country-Nummer viel, in der die Geschichte eines hoffnungslosen Hollywood-Schauspielers erzählt wird. Zwar liefert Ringo nicht seine stärkste Gesangsleistung, doch das muss sie für einen Song wie diesen auch nicht sein. Seine monotone Stimme transportiert den Inhalt auf eine besonders authentische Weise und Paul unterstützt wo es nötig ist mit Begleitgesängen. Der größte instrumentale Beitrag stammt von George, dessen Verzierungen an der Gitarre während der gesamten Laufzeit präsent bleiben. Das markante Gitarrenlick wurde aus dem Original übernommen, ist dort allerdings nur in der Einleitung zu hören. In den absteigenden Noten wird die trostlose Stimmung gekonnt zum Ausdruck gebracht und durch die mehrfache Wiederholung macht George das Lick zu einem wichtigen Erkennungsmerkmal des Songs. Auch wenn man den Song vielleicht nicht besonders häufig zu hören bekommt, ist er jedes Mal eine willkommene Überraschung und ein charmantes Beispiel dafür, dass sich die Band nicht allzu ernst genommen hat. Bermerkenswert ist außerdem, dass es sich abgesehen vom Outtake Maggie Mae auf Let It Be hierbei um die letzte Coversion auf einem Album der Beatles handelt.

It’s Only Love

Noch im selben Jahr begann John mit Songs wie Help! oder Nowhere Man, sich zunehmend persönlicheren Themen zuzuwenden. Mit It’s Only Love griff John allerdings ein letztes Mal auf die altbewährte Methode des stereotypen Pop-Songs zurück. Von den ersten Symptomen des Verliebtseins bis zum Beziehungsstreit werden all die klischeebeladenen Themen abgedeckt, die in den letzten Jahren zum Markenzeichen der Beatles geworden sind. John ist der offensichtliche Mittelpunkt des Songs und liefert eine bemerkenswert gute Gesangsdarbietung voller melodischer Akzente. Besonders im Refrain wird die Gesangsmelodie mit einer spürbaren Leidenschaft vorgetragen und geht einem nicht mehr aus dem Kopf. Am Ende lässt John uns mit seinem Falsettgesang für die Zeile „Loving you“ nochmal seine volle Bandbreite spüren und bringt den Song zu einem befriedigenden Höhepunkt. Ein weiteres Aushängeschild ist das wiederholende Thema auf der Gitarre, mit dem George trotz des ungewöhnlich verzerrten Klangs in angenehmer Weise durch den Song führt. John begleitet sich in gewohnter Singer-Songwriter-Manier auf der Rhythmusgitarre, während Ringo die Musik mit einem originellen Schlagzeugmuster unterlegt, das an die Songs Anna und In My Life erinnert und während des gesamten Songs gehalten wird. John erklärte später, er habe sich wegen des abscheulichen Textes geschämt. Doch auch wenn der Song schnell zusammengeschustert zu sein scheint, um das Album zu füllen, wäre It’s Only Love für jede andere Band eine Single geworden.

You Like Me Too Much

In seiner dritten Eigenkomposition zeigt George sich von einer selbstgefälligen Seite. Obwohl seine Geliebte ihm damit droht, singt George, habe sie nicht den Mut, ihre gemeinsame Beziehung zu beenden. Wenn sie ihn dann gegen Ende tatsächlich zu verlassen scheint, bemüht er sich dann doch, sie zum Bleiben zu überzeugen. Obwohl sich die Gesangsmelodie nicht über eine sonderlich große Bandbreite erstreckt, bemüht sich George um eine leidenschaftliche Darbietung. Mit seiner fahlen Stimme wird er dem aufgeblasenen Inhalt dabei nicht ganz gerecht, doch John und Paul verleihen ihm mit ihren Begleitgesängen etwas mehr Fülle. Instrumental erweist John sich mit seinem pulsierenden Rhythmus am Keyboard als treibende Kraft, während George Martin mit seinem klimpernden Honky-Tonk-Klavier für eine altbackene Atmosphäre sorgt. Im Soloteil hören wir ein interessantes Zusammenspiel zwischen dem Klavier und George an der Gitarre, bei dem die jeweils vorangegangene Melodie vom anderen Instrument gespiegelt wird. In der Instrumentierung gibt es während der mehrfachen Wiederholungen der Strophe keine nennenswerten Unterschiede. Die klanglich abweichende Bridge fügt sich allerdings nahtlos ins Arrangement ein. Zwar mag dieser Song nicht zu den bahnbrechendsten Kompositionen aus der Feder von George gehören. Doch insbesondere textlich finden sich hier einige interessante Aspekte, in denen seine Entwicklung zu einem Songschreiber deutlich wird, der bereits wenige Jahre später seinen Bandkollegen ebenbürtig sein würde.

Tell Me What You See

In dieser gefühlvollen Komposition appeliert Paul an seine Geliebte, ihr gegenseitiges Vertrauen ineinander zu stärken. Er versichert, keine üblen Absichten im Schilde zu führen und wünscht sich, das Fundament ihrer gemeinsamen Beziehung zu stärken. Seine sanfte Stimme eignet sich hervorragend für den persönlichen Inhalt und geht gut ins Ohr, während John hier und da mit Begleitgesängen unterstützt und seinem Gesang einen zusätzlichen Schwung verleiht. In der Instrumentierung gibt es viel zu entdecken. Die aufwärts gerichteten Gitarrenanschläge von John ziehen uns von Beginn an in einer angenehmen Weise in die Musik. Klanghölzer und Schrapinstrumente, gespielt von Ringo und George, geben dem Rhythmus einen Latin-angehauchten Flair und zeigen die zunehmende Experimentierfreudigkeit der Band. Neben einfach gehaltenen Basslinien ist Paul am Ende jedes Refrains außerdem an den Tasten zu hören. Mit der Stop-and-Start-Methode, bei der die gesamte Band aussetzt und es nichts als eine Melodie am Keyboard zu hören gibt, wird eine kurze Atempause erzeugt, um uns beim Wiedereinsetzen der Musik mit einem bebenden Schlagzeugmuster von Ringo umso mehr in ihren Bann zu ziehen. Auch wenn dieser unscheinbare Song von der Konkurrenz des Albums in den Schatten gestellt wird, verbergen sich in der Einfachheit des Arrangements komplizierte Ideen, aus denen die Heranreifung der Beatles als Songschreiber gut deutlich wird.

I’ve Just Seen a Face

In ihrem ersten vollständig akustischen Song fängt Paul in knappen zwei Minuten auf einzigartige Weise den Rausch der Liebe auf den ersten Blick ein. Seine neue Flamme hat es ihm so sehr angetan, dass er seine Begeisterung kaum zurückhalten kann. Wäre es ein anderer Tag gewesen, hätte er die Chance seines Lebens verpasst. In der instrumentalen Einleitung hören wir Paul mit einer verschachtelten Spieltechnik an der Gitarre. Das Intro gibt dem Song einen unvergleichlichen Einsteig und vermittelt den Eindruck, als ob sich die Musik in eine dramatische Richtung entwickeln würde. Sobald die erste Strophe beginnt, kommt dann aber die klassische Pop-Atmosphäre eines frühen Beatles-Songs zum Vorschein. Aufgrund der akustischen Instrumentierung bleibt ein gewisser Folk-Charakter dabei durchgehend erhalten. Ringo spielt einen unermüdlichen Rhythmus am Schlagzeug und den Maracas, während John der Musik mit seinem rasanten Rhythmusgitarrenspiel ein solides Fundament verpasst. George trägt zum Wiedererkennungswert bei, wenn er im Instrumental die Gesangsmelodie der Strophen mit einem makellos vorgetragenen Solo auf der Akustikgitarre wiederholt. Auch der originelle Text steckt voller Verschachtelungen. Zeilen gehen nahtlos ineinander über, die Gesangsmelodien während der Strophen werden in einem Atemzug vorgetragen sind derart schnell, dass sie eine beinahe hypnotische Wirkung entfalten. In der leidenschaftlichen Gesangsdarbietung von Paul lässt sich seine Euphorie geradezu spüren. Für jede andere Band wäre ein Song wie dieser ein Aushängeschild gewesen. Die Beatles versteckten ihn auf der zweiten Seite des Soundtrack-Albums zum Film Help!, in dem es gar keine Verwendung fand.

Yesterday

Wer hätte nach all den klischeebeladenen Pop-Songs ein zeitloses Werk wie Yesterday für die Beatles voraussagen können? Diese akustische Ballade ist Lichtjahre von allem entfernt, was sie bis zu diesem Zeitpunkt aufgenommen haben. Der Song erzählt davon, wie schwierig es sein kann, in einer gefühlt ausweglosen Situation mit dem Leben weiterzumachen. Paul besinnt sich auf die gemeinsame Zeit, die er und seine Geliebte vor ihrer Trennung miteinander verbracht haben. Den Höhen und Tiefen wird durch eine kurvenreiche Gesangsmelodie Ausdruck verliehen. Paul ist der einzige Beatle, der auf dieser Aufnahme zu hören ist. Seine makellose Gesangsdarbietung wird dem Inhalt mehr als gerecht. Paul begleitet sich mit spärlichen Noten auf der Akustikgitarre, die trotz, oder gerade wegen ihrer Einfachheit eine große Wirkung entfalten. Mit diesem Song begann George Martin, den Beatles seinen Stempel aufzudrücken. Einem Streichquartett eine solch vordergründige Präsenz zu verschaffen, war ein gewaltiger Schritt in der damaligen Popwelt. Sein Arrangement verleiht der ohnehin trostlosen Landschaft eine zusätzliche Schwermut. In der letzten Strophen erklingt ein hoher, gleichmäßiger Ton auf der Geige, der den Song im Kontext des herzzerreißenden Inhalts auf einen atemberaubenden Höhepunkt bringt. Es ist eine einzigartige Erfahrung, dieses zeitlose Meisterwerk zu hören. Und auch, wenn man den Song in all seine Bestandteile zerlegt, umwebt Yesterday eine gewisse Magie, die sich nicht entmystifizieren lässt.

Dizzy Miss Lizzy

Mit dieser Coverversion eines Larry-Williams-Songs ließen die Beatles einen Song aufleben, den sie schon während ihrer Auftritte im Cavern Club gespielt hatten. So wie es in den frühen Jahren des Rock’n’Roll meist der Fall war, hat der Song inhaltlich nicht viel Substanz. Der Erzähler umschmeichelt Lizzy mit allerlei Komplimenten und ist zweifellos von ihrer Erscheinung angetan. Dem Enthusiasmus wird durch die lebhafte Stimmegewalt von John auf überzeugende Weise Ausdruck verliehen. Seine treibende Rhythmusgitarre verleiht dem Song ein solides Fundament und die Hammond-Orgel tut ihr Übriges, um den Klang in Abwesenheit der Bläser im Original auszufüllen. Mit dem unerbitterlichen Zischen des Schlagzeug-Beckens lässt Ringo die Musik nicht zur Ruhe kommen, während seine gelegentlich überhasteten Fills dem Song den nötigen Schwung verleihen. Während das eindringliche Gitarrenriff in den Strophen der Originalversion ruht, wird es von George hier über die gesamte Laufzeit hinweg wiederholt. Offensichtlich versuchen die Beatles an die Intensität klassischer Rock’n’Roll-Nummern wie Twist and Shout oder Money anzuknüpfen. Einem Song, der von Grund auf kaum strukturelle Unterschiede anzubieten hat, kommt so eine Gleichförmigkeit allerdings nicht wirklich zugute. Leider verhilft es dem auch Song nicht, dass er im Kontext des Albums auf die minimalistische Akustikballade Yesterday folgt. Doch auch wenn der Song kein wesentlicher Bestandteil ihres Katalogs ist, gibt die Aufnahme einen interessanten Einblick in eine Band, die sich hier auf ihre frühesten Rock’n’Roll-Wurzeln besinnen.

--

--